UfU Informationen | Ausgabe 7 – Dezember 2022 | Sarah Kovac & Franziska Sperfeld

Mehr als „nur“ Klimaschutz

Die sozioökonomischen Potentiale der Erneuerbaren Energien

Die COP27 hat es noch einmal verdeutlicht: Mit Klimaschutz-Argumenten alleine ist es noch immer schwierig, Staaten dazu zu bewegen, den Ausbau von erneuerbaren Energien zu fördern, und gleichzeitig die Nutzung von Kohle, Öl und Gas zu reduzieren. Für die Energiewende braucht es auch andere Argumentationslinien. Eine davon können die  „Co-Benefits“ sein.

Co-Benefits, zu deutsch Zusatznutzen oder positive Nebeneffekte, entstehen, wenn „aufgrund einer politischen Intervention, einer unternehmerischen Investition oder einer Kombination aus beidem, gleichzeitig mehrere Interessen oder Ziele erreicht werden können”.1 Mit Bezug auf erneuerbare Energien können unter Co-Benefits also diejenigen Nebenwirkungen verstanden werden, welche durch die Dekarbonisierung der Energieerzeugung auch in anderen Sektoren auftreten.

Für diese positiven Nebeneffekte der erneuerbaren Energien gibt es zahlreiche Beispiele aus verschiedensten Sektoren. So kann ihr Ausbau zum Beispiel die Elektrifizierung ländlicher Haushalte unterstützen, zur Verringerung des Wasserverbrauchs beitragen und die Entwicklung von Innovationen anschieben, welche auch für andere Branchen nützlich sind. Richtig geplant besitzt der Ausbau der erneuerbaren ein großes Potenzial zur Stärkung lokaler Gemeinschaften: Haushalte zahlen weniger für die Stromversorgung oder können durch Einspeisevergütungen für den von ihnen produzierten Solarstrom die Haushaltskasse aufstocken, Schüler*innen können in Gegenden mit instabiler Stromversorgung durch mit erneuerbaren Energien betriebene Beleuchtung auch die Abend- und Morgenstunden zum Lernen nutzen, während ihre Eltern z.B. durch die Wartung von Solar- oder Windanlagen ein zusätzliches Einkommen für die Familie generieren.2 Erneuerbare  Energien beeinflussen also verschiedenste Lebensbereiche und Politikfelder.

Die Co-Benefits der Energiewende hin zu einer EE-basierten Stromversorgung sind vielfältig und trotzdem, oder gerade deshalb noch nicht weitgehend erforscht. Ihre systematische Evaluierung ist jedoch sowohl sozial- als auch klimapolitisch höchst relevant. Denn eine möglichst genaue Einpreisung aller Zusatzeffekte zeigt Entscheidungsträger*innen auf, welche tatsächlichen Potenziale sich hinter Investitionen in den Ausbau von erneuerbaren Energien verbergen und wo sich diese gleich doppelt bis dreifach auszahlen.

Der Co-Benefits Ansatz ist somit ein Schlüssel für das Zusammendenken von Initiativen für den Klimaschutz im Energiebereich und zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs), oder anders ausgedrückt, der Grundstein zur Bildung von neuen strategischen Allianzen zwischen Sozial- und Wirtschaftsressorts und energiepolitischen Klimaschutzinitiativen. Kurz gesagt, ein wichtiger Baustein einer gerechten Energiewende – einer “Just Energy transition”.3

Erste Hinweise zu den Potentialen von Co-Benefits in der Energiewende geben die insgesamt 13 Co-Benefits-Analysen in acht Ländern, die im COBENEFITS Projekt mit insgesamt 18 Forschungspartnern erstellt wurden. Das Cobenefitsprojekt ist ein Projekt des IASS, UfU, RENAC und IET. Die Auswertung dieser Studien zeigt, dass in den untersuchten Co-Benefits-Kategorien der Ausbau von erneuerbaren Energien im Strommix tendenziell mit höheren sozio-ökonomischen Co-Benefits einhergeht als ein kohleintensives Business-as-usual im Stromsektor.4

Die Auflistung aller berechneten Co-Benefits würde den Rahmen dieses Artikels deutlich sprengen. Deshalb werden im Weiteren zwei Co-Benefits Kategorien näher betrachtet: Die Effekte der Dekarbonisierung des Stromsektors auf den Arbeitsmarkt und auf die öffentliche Gesundheit.

Die Dekarbonisierung der Stromversorgung und der Arbeitsmarkt

Ein Mehr oder Weniger an erneuerbaren Energien in der Stromversorgung wirkt sich auf den Arbeitsmarkt aus. Hier wird es absehbar zum Wegfall von Jobs im Bergbau und im Kohle-, Gas- und Ölsektor kommen. Allerdings öffnet die Energiewende auch neue Geschäftsfelder und schafft viele neue Arbeitsplätze.

Dieses Arbeitsmarktpotenzial erstreckt sich zuallererst auf die Branche der erneuerbaren Energien selbst. Dort sind aktuell weltweit etwa 12 Millionen Menschen beschäftigt (IRENA & ILO 2021).5 Diese Zahl kann bis zum Jahr 2030 auf etwa 38 Millionen Vollzeitarbeitsplätze ansteigen, wenn erneuerbare Energien so stark ausgebaut werden, dass sie ihren Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung auf maximal +1,5°C leisten.

Erneuerbare Energien schaffen auch außerhalb ihres eigenen Sektors neue Jobs. Zum Beispiel bei der Produktion von Materialien für den Bau von Windrädern und Solarpanels sowie damit verbundenen Dienstleistungen (indirekte Beschäftigungsprozesse), aber auch bei weiteren Branchen, die wiederum von einem Wachstum dieser vorgeschalteten Industrien profitieren (induzierter Beschäftigungseffekt).

Die COBENEFITS Job-Studie für Vietnam zeigt eindrucksvoll das Jobpotenzial eines Ausbaus der Erneuerbaren: Ein großes Solar- oder Windkraftwerk zur Stromerzeugung mit einem Megawatt Kapazität würde in Vietnam im Durchschnitt doppelt so viele Jobs schaffen wie ein Kohlekraftwerk mit gleicher Kapazität. Das Ersetzen von Kohlekraftwerken mit Wind- und Solarenergie würde sich also positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken, und das nicht nur im eigene Sektor, sondern auch in weiteren Branchen (siehe Schaubild). Den Länderreport zu Indien finden Sie hier: Länderreport Indien

Ergebnisse der COBENEFITS Studie zu Arbeitsmarkteffekten von erneuerbaren Energien im Stromsektor in Vietnam: Ein MV installierte Kapazität zur Stromgewinnung aus Kohle schafft in Vietnam nur halb so viele Arbeitsplätze wie die gleiche Kapazität zur Produktion von wind- oder solarbasierten Strom.

Die COBENEFITS-Studie zum Jobpotenzial von erneuerbaren Energien für die vietnamesische Stromversorgung hat auch das ausgewertet. Etwa 30 Prozent aller für den Ausbau benötigten Arbeitskräfte in Vietnam sind höher qualifizierte Arbeitskräfte, 56 Prozent sind Personen mit mittlerer Qualifikation (Anlagenbediener*innen, Handwerker*innen oder Bürokräfte). Aber auch für gering qualifizierte Arbeitskräfte schaffen erneuerbare Energien Chancen: 14 Prozent der für die Stromversorgung benötigen Arbeitskräfte in Vietnam sind dieser Gruppe zugeordnet.

Obwohl der Ausbau von erneuerbaren Energien die Voraussetzungen für positive Nebeneffekte schafft, können Co-Benefits nur dann bestmöglich genutzt werden, wenn man Rahmenbedingungen setzt, die deren Nutzung unterstützen. Dazu tragen sogenannte Enabling Policies bei.

Im Co-Benefits-Projekt war es Schwerpunkt des UfU-Teams genau diese Enabling Policies in den Partnerländern mit partizipativen Methoden zu identifizieren und auszuarbeiten. Zu den Enabling Policies haben wir einen Bericht herausgegeben, den Link finden sie auch nochmal im Anhang dieses Artikels.

Im Jobsektor wurden vor allem Strategien und Programme zur Gewinnung von Fachkräften und Berufseinsteiger*innen für den Erneuerbare-Energien-Sektor, sowie zu deren Aus- und Weiterbildung identifiziert.

Die Dekarbonisierung der Stromversorgung und die öffentliche Gesundheit

Die tödliche Wirkung von verschmutzter Luft wird oftmals unterschätzt. Dabei sind die Zahlen deutlich: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass jährlich etwa 7 Millionen frühzeitige Todesfälle weltweit auf Luftverschmutzung in Innenräumen und im Freien zurückzuführen sind.6 Ein Bericht der IEA kommt weiterhin zu dem Ergebnis, dass der Energiesektor global bei weitem der größte Verursacher von Schadstoffemissionen in die Luft ist.7 In Indien ist verschmutzte Umgebungsluft inzwischen der zweitgrößte Risikofaktor für die Gesundheit.8

Gesundheitsgefährdende Stoffe in der Luft sind vor allem Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffdioxid (NO2) und Feinstaub (PM2/PM10). Ist man diesen Schadstoffen in der Atemluft regelmäßig ausgesetzt, steigt das Risiko, an chronischen Erkrankungen und Infektionen der Atemwege (z.B. Asthma), Herz- und Kreislauferkrankungen, Hirngefäßerkrankungen ( z.B. Schlaganfälle), aber auch an Diabetes Mellitus Typ 1 oder Lungenkrebs zu erkranken, deutlich.9 Industrielle Prozesse und Stromerzeugung sind globale Hauptquellen für SO2 und NO2 in der Luft, während Feinstaubemissionen z.B. durch Autoabgase, Industrie, Bergbau oder dem Verbrennen von Biomasse entstehen.10

In Indien, einem Land mit stark wachsendem Strombedarf, sterben nach Berechnungen von IASS und TERI schon jetzt mehr als 38.000 Menschen jährlich an den Folgen von Feinstaub aus Kohlekraftwerken, und mehr als 14 Millionen gesunde Lebensjahre gehen verloren. Diese Zahl würde bei einem Business as usual-Szenario bis 2050 auf deutlich mehr als 50.000 Todesfälle pro Jahr und mehr als 24 Millionen verlorene gesunde Lebensjahre ansteigen. Nur wenn der Stromsektor deutlich schneller und ambitionierter als in den nationalen Klimaschutzplänen angegeben dekarbonisiert wird, würden die Todesfälle nicht steigen, sondern auf etwas über 20.000 Todesfälle pro Jahr sinken, und mehr als 7 Millionen Krankheitsjahre könnten in 2050 vermieden werden.11

Fazit: Die Dekarbonisierung der Stromproduktion und die Priorisierung von erneuerbaren Energien in zukünftigen Energiesystemen sowie die damit verbundene Reduzierung von aktuellen und zukünftigen Schadstoffemissionen kann nicht nur erheblich zum Klimaschutz beitragen, sondern weltweit auch Hunderttausende Menschenleben retten und das gesundheitliche Wohlempfinden weiterer Millionen Menschen verbessern.

Durch die Dekarbonisierung werden außerdem Gesundheitskosten vermieden. Wenn aufgrund von weniger Kohle und anderen fossilen Energieträgern im Energiesektor weniger Menschen an den Folgen schlechter Atemluft erkranken, müssen weniger Gesundheitsdienste für die Prävention, Diagnose und Behandlung dieser Krankheiten in Anspruch genommen werden. So werden Gesundheitssysteme direkt entlastet. Reduzieren sich die durch Luftverschmutzung ausgelösten Krankheitsfälle, gibt es aber auch weniger Krankheitstage, weniger Tage mit eingeschränkter Produktivität und somit weniger Fehlzeiten. Davon profitieren Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber auch die Staatskasse, wie die Zahlen im folgenden Schaubild für Indien verdeutlichen.12  Den Länderreport zu Indien finden Sie hier: Länderreport Indien.

Vermiedene Gesundheitskosten in Indien, mit weniger Feinstaub in der Luft und Dekarbonisierung des Stromsektors. Vergleich von zwei Szenarien: Ein BAU-Szenario mit Indiens aktueller Klimapolitik und ein NDC Plus Szenario mit ambitionierter Dekarbonisierung des Stromsektors. Die jährlichen Gesundheitskosten eines “weiter so” würden sich bis 2050 verzehnfachen, während das NDC Szenario die Gesundheitskosten in 2050 um etwa 20 Prozent reduzieren kann. Umgerechnet werden 136 Billiarden Euro eingespart.

Diese Co-Benefits im Gesundheitssektor entstehen durch die Dekarbonisierung von selbst.13 Es braucht vor allem Enabling Policies, also kluge Gesetzgebung, um sicherzustellen, dass möglichst viele Menschen gesundheitlich deutlich von der Energiewende profitieren: Zum Beispiel indem die schmutzigsten oder in eng besiedelten Gebieten operierenden Kraftwerke durch weitsichtige Planung zuerst abgestellt werden.14

Enabling Policies für die bestmögliche Nutzung von Co-Benefits

Die Enabling Policies und ihre Implementierung müssen individuell auf die Situation in betreffenden Ländern und Regionen angepasst werden. Dabei ist Partizipation ein wichtiger Bestandteil. Das UfU hat in gemeinsamen Workshops in allen Projektländern die Akteur*innen aus verschiedenen Ministerien, Zivilgesellschaft und Wirtschaft miteinander vernetzt, um gemeinsam Aktivitäten zu priorisieren, die besonders stark dazu beitragen können die kalkulierten Potenziale voll auszuschöpfen. Die Ergebnisse dieses Prozesses wurden in den Policy Reports der einzelnen Projektländer veröffentlicht.15

Neben Politikvorschlägen zur maximalen Nutzung von sektorspezifischen Co-Benefits wurden auch einige Maßnahmen identifiziert, die Ausschöpfung aller Co-Benefits unterstützen und keinen negativen Effekt haben können.

Die wohl wichtigste Maßnahme ist die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Regierungsressorts. Denn in vielen Ländern ist das Energieressort für die Planung des Stromsektors zuständig. In dessen Haushalt schlagen sich somit auch oftmals vorrangig die Kosten der Energiewende nieder – sei es in Form von Investitionen oder einem steigenden Personal- und Planungsaufwand. Die positiven Wirkungen und vermiedenen Kosten der Dekarbonisierung liegen jedoch oftmals im Verantwortungsbereich von Ministerien, die nicht direkt für die Energieplanung zuständig sind. Somit existiert im Energieressort oftmals kein interner Anreiz, Co-Benefits bei der Energieplanung zu berücksichtigen – dieser muss von außen durch andere Ressorts und von der Zivilgesellschaft kommen.16

Erste Ideen für die Überwindung dieses Dilemmas könnte der Aufbau eines Formats zur kontinuierlichen, ressortübergreifenden und zielgerichteten Politikplanung, Koordinierung und Kooperation für Co-Benefits sein. Die im Projekt initiierten Co-Benefits Councils (CobCons), regelmäßige, interministerielle Treffen zur Vernetzung der staatlichen Energieplanung mit andren Ressorts sind hier positive Beispiele.

Links zum COBENEFITS-Projekt

Homepage: www.cobenefits.info

Zum Enabling Policies Report: www.ufu.de/ufu-und-iass-veroeffentlichen-enabling-policies-report/

Alle Infografiken: www.cobenefits.info/infographics-gallery-2/

Quellenverzeichnis:

  1. Sperfeld und Helgenberger (2020): Argumente für Just Energy transitions weltweit: Co-Benefits der globalen Energiewende. In: Ökologisches Wirtschaften 04 – 2020
  2. Helgenberger, S., & Jänicke, M. (2017). Mobilizing the co-benefits of climate change mitigation: Connecting opportunities with interests in the new energy world of renewables. IASS Working Paper, (July 2017)
  3. Sperfeld und Helgensberger (2020): Argumente für Just Energy transitions weltweit: Co-Benefits der globalen Energiewende. In: Ökologisches Wirtschaften 04 – 2020
  4. Ebendort.
  5. IRENA & ILO (2021): “Renewable Energy and Jobs – Annual Review 2021”. Abu Dhabi/Genf: IRENA/ILO, 2021
  6. World Health Organization. n.d. “Air pollution.” Unter: https://www.who.int/airpollution/en/.
  7. International Energy Agency. 2016. “World Energy Outlook Special Report 2016: Energy and Air Pollution.” Paris. Unter: https://webstore.iea.org/download/summary/343?fileName=English-WEOAir-Pollution-ES.pdf
  8. IASS/TERI. Improving health and reducing costs through renewable energy in India. Assessing the co-benefits of decarbonising the power sector. Potsdam/New Delhi: IASS/TERI, 2019
  9. IASS/CSIR. Improving health and reducing costs through renewable energy in South Africa. Assessing the co-benefits of decarbonising the power sector. Potsdam/Pretoria: IASS/CSIR, 2019.
  10. Ebendort.
  11. IASS/TERI. Improving health and reducing costs through renewable energy in India. Assessing the co-benefits of decarbonising the power sector. Potsdam/New Delhi: IASS/TERI, 2019
  12. Ebendort.
  13. UfU/IASS (2022): Maximising co-benefits of the energy transition: Enabling policies in countries worldwide. COBENEFITS Impiulse. Potsdam, September 2022. www.cobenefits.info